Die Qual der Wahl
Ein viel
gepriesener Vorzug unserer Gesellschaft ist, dass wir wählen können. Wie viele
Käsesorten hat Ihr Supermarkt im Angebot? Wie viele Reiseziele kommen für Ihren
nächsten Sommerurlaub in Frage? Vielleicht sollten Sie sich das lieber nicht zu
genau überlegen; es könnte Ihnen schwindelig werden dabei. Doch als kleinmäßig
gilt, wer vor den Qualen der Wahl zurückschreckt. Je größer die Fälle, desto
besser stehen schließlich die Chancen, dass jeder das Passende findet und umso
zufriedener sollten wir sein.
Aber wir
sind es nicht. Heute nennen sich nicht mehr Menschen glücklich als in den
1950er Jahren, als der Laden genau eine Apfelsorte und die Reisebüros ein
einziges Strandhotel in Rimini und eines in Nizza anboten. Im Gegenteil: Die
Zahl derer, die an Depressionen erkranken, hat furchterregend zugenommen. Sind
wir undankbar? Oder trägt viel Auswahl gar nicht dazu bei, ein erfülltes Leben
zu führen?
Jede
Vielfalt hat ihren Preis, und wir bezahlen ihn oft unbewusst. Entscheidungen quälen
uns mehr, als es wert ist.
Schlimmer
noch, behaupten Sozialpsychologen: Die Menge der Wahlmöglichkeiten ist ein Teil
des Problems. Wenn wir uns entscheiden müssen, kostet das nämlich Zeit - oft
mehr, als uns gut tut. Stellt sich der Griff später als nicht so günstig
heraus, plagt uns die Reue. Gleich zweimal gilt es dann einen Verlust zu
verkraften: erst die verschwendete Zeit, dann die verpasste bessere Lösung. Und
auf jeden Verlust folgen unweigerlich negative Gefühle: Enttäuschung,
Niedergeschlagenheit, Wut.
Die Folgen
hat der amerikanische Psychologe Barry Schwarz untersucht. Er befragte seine
Landsleute, wie lange sie beispielsweise in einer Videothek auf der Suche nach
der besten Abendunterhaltung verweilen. Nach ihren Antworten unterschied der
Forscher zwei Sorten Menschen: Die einen wollen immer das optimale Ergebnis
erzielen, die anderen geben sich schon mit einigermaßen annehmbaren Resultaten
zufrieden. Wie Schwarz feststellte, sind jene, die fünf gerade sein lassen, die
glücklicheren Zeitgenossen - obwohl die Perfektionisten objektiv die besseren
Entscheidungen treffen. Umgekehrt erwiesen sich gerade Menschen, die stark nach
Perfektion strebten, als besonders anfällig für Depressionen.
Sicherlich
hat die Gemütskrankheit mehr als nur eine Ursache; hinzu kommt, dass sich mit
Entschlüssen schwer tut, wer ohnehin einen Hang zu Grübeleien hat. Doch
unbestreitbar hat Vielfalt ihren Preis, und wir zahlen ihn oft unbewusst. Viele
Entscheidungen quälen uns mehr, als die Sache es wert ist - fiele es uns nur
nicht so schwer, der Verlockung des Optimalen zu widerstehen. Versuchen Sie es
trotzdem. Werfen Sie den Stapel Reiseprospekte ins Altpapier, und wählen Sie
Ihr Ferienziel per Münzwurf! Sie werden staunen, wie erholsam das ist.
AUFGABEN ZUM TEXT
Schreibt zu jeder Ziffer JA oder
NEIN! JA bedeutet: So ist es oder so sieht es der Autor
oder so ist es folgerichtig.
1.
„kleinmütig" bedeutet „verzagt". -
2.
Ferien in Rimini und Nizza machen depressiv. -
3.
Ein erfülltes Leben kann nur haben, wer viele
Auswahlmöglichkeiten hat. -
4.
Der Entscheidungsprozess kann Zeitverschwendung sein. –
5.
Der Entscheidungsprozess quält uns
oft mehr, als die Sache es wert ist. -
6.
„optimal" hat
eine ähnliche Bedeutung wie „maximal" -
7.
Perfektionisten wollen immer fünf
gerade sein lassen. -
8.
Je mehr Auswahl es hat, desto preisgünstiger
kann man einkaufen. -
9.
Wer Ferien macht, sollte den
Ferienort sorgfältig auswählen, sonst ist er nachher bestimmt enttäuscht.
10. Reiseprospekte sind
informativ und wichtig. Sie sollten genau studiert werden. -
11. Eine Fahrt ins Blaue kann
erholsam sein.
12. Wir können die Gesellschaft, in der wir leben, frei wдhlen. -
13. Ein
Ferienland, wo es sehr viele Käsesorten gibt, kann einen indirekt glücklich machen. -
14. In Rimini hat es zu viele
Supermärkte. -
15. Nizza kann
depressiv machen. -
16. Ein großes Warenangebot macht Konsumentinnen und Konsumenten glücklich. -
17. Ein großes Warenangebot kann Fehlkäufe
nicht verhindern. -
18. Um
bei der Fälle des Angebots
einer Videothek eine objektiv gute Auswahl zu treffen, muss man sich Zeit nehmen. -
19. Subjektiv gesehen bringt
stundenlanges Wählen in einer Videothek nichts -
20. Die
Leute hatten früher, z.B. in den
1950er Jahren, ein erfüllteres Leben und
waren wohl auch glücklicher.
-
21. Heute verschwendet man zu viel Zeit, um sich im
Warenangebot zu Recht zu finden.-
22.
Video ist die beste Abendunterhaltung. -
23. Video ist schuld an den
vielen Gemütskrankheiten. -
24. Gemütskranke
haben oft einen Hang zu Grübeleien. -
25. Wenn
nur eine Apfelsorte im Sortiment eines Ladens ist, reagieren wir häufig mit Enttäuschung, Niedergeschlagenheit und Wut. -
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