Arbeit mit
Stereotypen
Landeskundliches
Lernen und Lehren muss sich auf die Lernenden und deren Voraussetzungen einstellen. Das können
zum einen lernstufen- und altersabhängige Lernervoraussetzungen sein. Buttjes schlägt
zum Beispiel vor, im Anfangsunterricht vor allem das Bewusstsein für sprachlich-kulturelle
Differenzen zu entwickeln und erste Eindrucke abweichender kultureller Erfahrungen bei der
Begegnung mit dem anderen Sprachsystem zu sammeln. Am Ende der Sekundarstufe I sollen
dann die Jugendlichen interessierende sozialkündliche Themen (wie z.B. Adoleszenz, Minoritäten
u.a.) auf einem konkreten Kulturhintergrund behandelt werden. In der Sekundarstufe
II gehe es dann um berufsorientiertes, handlungsspezifisches landeskundliches Wissen (Buttjes 1989,
117/118).
Lernervoraussetzungen
beachten heißt aber auch, das Bild vom Zielsprachenland, das der Lerner (durch eigene
Erfahrungen, Medien oder Unterricht vermittelt) im Kopf hat und mitbringt in den Unterricht,
ernst zu nehmen:
„Die Bilder,
die einer vom fremden Land hat, haben oft mehr mit dem eigenen Kopf zu tun als mit der
fremden Wirklichkeit... Jeder, der
Deutsch lernt, bringt schon Vorstellungen über die Deutschen und die deutsche Sprache in den Unterricht mit, Erfahrungen (z.B. mit
deutschen Touristen), Ängste (vor der ‘schweren’ Sprache), Klischees und Vorurteile" (Krumm 1992, 16).
Beispiele für
Klischees und Stereotype lassen sich sehr leicht finden, so zum Beispiel im SPIEGEL special 9/1998
in einer kleinen Auswahl von Äußerungen von Schülerinnen und Schülern über
Deutschland:
„Der Rhein ist
romantisch und Deutschland ist mächtig Die Menschen, die dort wohnen, sind ein bisschen schwerfällig
und unberechenbar, immerhin aber fleißig und kultiviert, und Neuschwanstein haben sie auch noch:
In den Schulbüchern anderer Länder taucht das Bild der 50jahrigen Republik
mitunter in seltsamen Farben auf, und natürlich steckt es so auch in den Köpfen der Jungen.
Einstmals. so ist zu hören, hat Hitler überall Bomben geworfen, und heute bauen sie da
vortreffliche Autos, sie trinken immerfort Bier - und können doch auch richtig nett sein. SPIEGEL
special sah in Lehrbucher und notierte spontane Äußerungen von Schülern und Schülerinnen aus
acht Nationen" (S. 212)
Adrian Oliver,
16, Schülerin aus Spartanburg im US-Bundesstaat South Carolina:
„Deutsche trinken viel
Bier, tragen Lederhosen und sind meistens blond und blauäugig. das ist zwar ein
Stereotyp, aber wohl war. Wenn ich an Deutschland denke, dann denke ich an Adolf Hitler, den
Schwarzwald, Schloss Neuschwanstein, BMW, Fu.ball und an die alten Germanen. Und natürlich
an Mozartkugeln, aber die sollen recht teuer sein. Deutsche sind hart arbeitende und vielbeschäftigte
Menschen, die ihre Meinung unverblümt heraussagen. In den USA gibt es
Menschen, die glauben, da. ein Dritter Weltkrieg wieder von Deutschland ausgehen wurde. Das
glaube ich aber nicht. Aber ich weiß, da. die Deutschen ein Problem mit Neonazis und
Chaos-Tagen haben."
Die Moskauer Schülerin
Alexandra Baranowa, 17:
„Die Deutschen
schatzen zu sehr Ordnung, Ausgeglichenheit, Gemessenheit ihres Lebens. Darin liegt, wie mir
scheint, ihre grundlegende Unzulänglichkeit, weil durch diese Geplantheit
seines Lebens der Mensch zum Automaten wird. Er denkt nur noch in Fahrplanen für
sein Leben, in Wochen, Monaten, Dekaden, Jahren; daran, wie er alles rechtzeitig
schafft, seine Zeitvorgaben einhalt und noch irgendwo eine Reserve
behalt für unvorhergesehene Treffen und Vergnügungen. Irgendwann wird selbst
einem alten Freund nur noch ein bestimmtes Ma. an zeit zugebilligt.
Die positiven
Eigenschaften der Deutschen: Sie sind gut ausgebildet, kultiviert, fröhlich, arbeitsam und
freundlich ... Das moderne Deutschland ist ein hochentwickelter kapitalistischer Staat
mit einem hohen Lebensstandard. Das Nationalgetränk der Deutschen ist das Bier."
Madeleine
Philip, 18, Schülerin eines Stockholmer Gymnasiums:
„Die heutigen
Deutschen sind nicht dieselben wie vor dem Krieg und wahrend des Krieges. Wir können den Kindern
das, was gewesen ist, doch nicht anlasten. Ich glaube, da. Deutschland in Europa nie wieder
Schaden anrichten wird. Aber vielleicht bin ich da ein bisschen blauäugig. Mit dem
heutigen Deutschland verbinde ich vor allem die Autobahn, auf der ich mit meinen Eltern durchgereist
bin, und Fußball, der Weltklasse hat."
Natasja Pas,
16 Jahre, Schülerin an der Europaschule im niederländischen Bergen:
„Ich bin regelmäßig in
Deutschland und finde, da. es ein schönes Land ist. Die Menschen sind freundlich. Aber die deutschen
Touristen! Die sprechen immer nur ihre eigene Sprache. Wenn wir im Ausland
sind, bemühen wir uns doch auch, die Sprache dort zu sprechen. Was die Deutschen im
Krieg getan haben, das ist vorbei. Sie schämen sich ja immer noch, obwohl die jungen
Leute nichts mehr damit zu tun hatten. Aber viele Niederländer mögen die Deutschen auch heute
noch nicht. Wenn niederländische Jugendliche negativ über die Deutschen sprechen, dann
plappern die nur alles nach, ohne nachzudenken. Zum Beispiel bei uns hier in Bergen, wo es
viele Touristen gibt, sagen immer wieder welche: „Ach, was wollen denn die Moffen hier?
Sie sollen abhauen nach Mofrika!" Auch an unserer Schule gibt es Rassismus - und nicht
nur gegen Deutsche. ..."
Mark Malpeli,
14, Schuler in London:
„Deutschland ist berühmt
für seine guten Wagen wie BMW, Mercedes, Audi, Volkswagen und Porsche. Die Firma
Bosch ist berühmt für Kühlschränke und Tiefkühler, Waschmaschinen, Geschirrspulmaschinen,
elektrische Bohrer und Schraubenzieher. man darf auch deutsche Wurste nicht
vergessen. Die Frankfurter haben ihren Namen von der Stadt Frankfurt erhalten, glaube ich
jedenfalls. Wenn das Wetter hei. ist, dürfen die Kinder die Schule früher verlassen. Das gibt es
in England nicht. Als Adolf Hitler Deutschlands Führer war, wurde das Land zum Grund für den
Zweiten Weltkrieg. Er hat beinahe jedes Land in Europa und auf den anderen Kontinenten
bombardiert."
Oberschuler
Kurodo Shibata, 15, aus Tokio:
„Deutschland wurde im
Krieg besiegt. In diesem Krieg mu.ten viele Menschen schwer leiden. das Schicksal von Anne
Frank, die vom Hitler-Regime umgebracht wurde, hat mich besonders beeindruckt. In
Deutschland wurden die Juden seit alten Zeiten benachteiligt. Deutschland ist vor
allem als Industrieland bedeutend. Deutsche Politiker kenne ich nicht. Auf deutschen
Autobahnen gibt es kein Tempolimit. Bisher war Japans Industrie der deutschen überlegen, jetzt ist
die deutsche Industrie starker als unsere. Die Deutschen haben einen riesigen Körper und sind elegant."
Elodie Sery, Schülerin
am Pariser „Lycee Fenelon":
„Ich war noch nie in
Deutschland, aber ich kenne Deutsche aus dem Urlaub in Frankreich, und ich lerne Deutsch.
Die Deutschen sind fleißig, sauber, pünktlich. Die Alten sind immer ernst und steif, aber
die Jungen feiern genauso verrückt wie wir. ... Die Deutschen sind
gute Nachbarn der Franzosen, trotz der Kriege. Sie hatten sicher die Möglichkeit, als größte
Wirtschaftsmacht Europa zu dominieren, aber nur die Ältesten bei uns befürchten das.
Wir respektieren sie,
aber wir lieben sie nicht - von privaten Liebesaffären mal abgesehen. Beim letzten
Eurovisions-Festival haben wir fürchterlich über das Ideal der Deutschen
gelacht: einen quiekenden Fettwanst. Die Deutschen kommen jedes Jahr zu Millionen zu
uns, klar, sie wollen ja auch einmal gut essen, guten Wein trinken und feiern. Vor
der Heimkehr sagen sie, sie mochten immer in Frankreich leben und
kehren deprimiert zurück: Arbeiten, Geld verdienen."
(Spiegel special
9/1998, 212 - 216)
Solche Klischees und
Stereotype aufzunehmen, von ihnen
auszugehen und mit ihnen zu arbeiten - das ist ein wichtiges Anliegen einer
lernerorientierten interkulturellen Landeskunde. Dabei sind Stereotype
durchaus nicht nur negativ, sondern sehr ambivalent zu sehen.
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