Eine Chat-Bekanntschaft
Ich gehe auf die
Website der Zeitschrift „AMICA". Man kann zwischen den Rubriken „Blind date", Meetingpoint" und „Chat"
wählen. Ich klicke auf „Chat", das
heisst einfach nur „Plaudern", und wähle dann eine der verschiedenen
Flirtlines. Ich nenne mich Chrissy. Nicht besonders originell, denke ich
später, als ich auf Namen wie „Valentino", „Casanova" oder „Mister Moonlight"
stosse.
„Hallo Chrissy" werde
ich da auch schon von Jan angesprochen. Gespannt klicke ich unter
„Antworten..." auf Jan und sage: „ Hi,
Jan."
Klassisch kommt die Frage: „ Wo wohnst du? „ Will er
herausfinden, ob ich geographisch in sein Leben passen würde? Dann kommen
Standards: wie alt, welche Hobbys, welche Ausbildung. Ich komme mir vor wie bei
der Beantwortung der Steckbriefe, die ich in der Schule ausfüllen musste. Jan
ist 26 und er studiert Architektur. Genau wie ich ist er zum ersten Mal in
einer Flirtline. Das schreibt er zumindest. Wir reden über sein Studium, seinen
Wohnort München, Musik, Urlaub. Langsam macht mir das Chatten Spass.
Schnell tippe ich
meine Fragen, starre auf den Bildschirm und erwarte Jans Antwort. Ich möchte
mehr von ihm wissen. Da wir nicht die ganze Nacht im Chat bleiben können,
tauschen wir unsere E-Mail-Adressen aus.
Fünf Wochen mailen
wir uns täglich. Abends kann ich es
kaum abwarten, von Jan zu lesen. Ich habe ihn noch nie getroffen, niemals seine
Stimme gehört, kein Foto gesehen, und
dennoch habe ich das Gefühl, ihn sehr gut zu kennen. Ich weiss, dass er gern ins Bars geht, dass er Irland liebt und die Alpen bei
Sonnenschein. Ich weiss, welche Probleme
er mit seinen Eltern hat. Ich weiss, wann er nachts wegen eines Examens nicht schlafen kann. Er schreibt mir
Gedichte, ich ihm Kurzgeschichten.
Zwischen uns entsteht eine Vertrautheit, die ich nicht
für möglich gehalten hätte. Nicht mit einem Menschen,
den ich nie gesehen habe. Aber vielleicht ist es gerade das, das Internet? Viel freier und
offener kann ich hier meine Gedanken beschreiben, weil ich hinter dem
Bildschirm verstecken kann.
Je mehr ich von Jan
erfahre, umso stärker wird mein Wunsch, ihn zu treffen. Manchmal, wenn ich
seine Mails lese, sitze ich lachend vor dem Computer. Ein anderes Mal
glaube ich fühlen zu können, wie schlecht es ihm geht.
Ich lese seine Mails wie ein Buch, wie die Lebensgeschichte eines Romanhelden,
und ich mache mir ein Bild von ihm. Wir zögern, ob wir uns wirklich sehen
sollen.
Schliesslich ist aber
doch die Neugierde grösser. Wir
verabreden uns in einem Café in München. Damit wir uns erkennen, soll ein
bestimmtes Buch auf dem Tisch liegen.
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